Omer Bartov, Berliner Zeitung:
[A]ls Historiker und politisch bewusster Beobachter Israels ist es meine Pflicht, die Ursachen zu betrachten. Sie reichen mindestens bis zum Krieg von 1948 zurück, in dem meine Eltern für die Gründung des Staates Israel kämpften, und in dessen Folge die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung aus dem Land vertrieben wurde. Zu den Ursachen gehört seit 56 Jahren auch die Unterdrückung von Millionen von Palästinensern, die mit beschnittenen Rechten, ohne Aussicht auf Freiheit und Gerechtigkeit in den besetzten Gebieten leben, wo sich immer mehr ein Apartheidregime entwickelt hat. Dazu gehört auch die seit 16 Jahren andauernde Belagerung des Gazastreifens, durch die zwei Millionen Palästinenser in hoffnungsloser und demütigender Armut mit fehlender Grundversorgung gefangen gehalten werden. All diese Faktoren führen zu Gewalt, Wut und Rachedurst. Das wäre zu verhindern gewesen. So wie der Krieg von 1973, in dem ich Soldat war und in dem Freunde von mir gefallen sind, hätte verhindert werden können, wenn die israelischen Politiker mehr Bereitschaft zu territorialen Kompromissen und Frieden gezeigt hätten. Als Historiker glaube ich, dass Ereignisse in der Geschichte Ursachen haben, und dass wir, wenn wir diese Ursachen erkennen und angehen, eine bessere Zukunft für uns und unsere Nachkommen schaffen können.
Sie erforschen als Historiker den Holocaust. Jetzt ist von Pogromen die Rede, der Terror der Hamas wird mit dem Holocaust in Beziehung gesetzt. Was ist von solchen Vergleichen zu halten?
Dies sind falsche, irreführende und ideologische Vergleiche. Pogrome waren Angriffe der Mehrheitsbevölkerung, vor allem in Osteuropa und nicht selten geduldet und unterstützt von der Regierung, gegen ihre jüdischen Nachbarn, die in der Minderheit waren. Die Juden hatten keine Regierung, keine Polizei und keine eigene Armee. Die Absicht des Zionismus war es, diesen Zustand durch die Schaffung eines jüdischen Mehrheitsstaates, der seine Bürger schützen kann, zu ändern. Dass es dem Staat Israel am 7. Oktober nicht gelang, seine Bürger zu schützen, war eine Kombination aus Inkompetenz und einem falschen politischen Konzept. Dieses Versagen hat seine tiefere Ursache in der Weigerung, einen politischen Kompromiss mit den Palästinensern zu suchen. Ministerpräsident Netanjahu hat sich bewusst dafür entschieden, die Hamas zu unterstützen und die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland zu schwächen, weil er glaubte, dass dies der beste Weg sei, um die Gründung eines palästinensischen Staates zu verhindern. Er hat den Wind gesät, den die israelische Gesellschaft nun als Sturm dieser Katastrophe ernten musste. Wie üblich hat er die Verantwortung für diese Katastrophe nicht übernommen. Diejenigen, die von Pogromen sprechen, verweigern eine politische Analyse und stellen die Juden als die ewigen Opfer der Geschichte dar. Opfer, die „alles tun dürfen“, um sich gegen die Mächte des Bösen zu verteidigen, einschließlich der Unterdrückung von Millionen von Palästinensern und der Tötung Tausender unschuldiger Zivilisten.
Wir beobachten, wie sich die Rhetorik verschärft und wie auch in der Praxis neue Maßstäbe gesetzt und Grenzen überschritten werden. Israels Verteidigungsminister Jo’aw Galant hat die vollständige Abriegelung des Gazastreifens angeordnet: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend.“
Solche Äußerungen sind ein klarer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und würden es rechtfertigen, Galant wegen der Anordnung von Kriegsverbrechen vor den internationalen Strafgerichtshof zu stellen.